Kulturgeschichte im Prisma: Bulgarien vom Altertum bis 1878
Assen Tschilingirov
(3) Die griechische Kolonisation der Schwarzmeerküste
27 Grabstele des Deires, des Sohnes von Anaxander. Marmor, Apollonia Pontica, 510 - 500 v. u. Z., Archäologisches Museum Sofia
28 Artemis. Figur aus Terrakotta, 4. Jh. v. u. Z., Archäologisches Museum Sofia
29 Hals eines Tongefäßes mit Darstellung eines Männerkopfes. 5. Jh. v. u. Z., Nationalmuseum Sofia
30 Grabrelief. Südthrakien, 5. Jh. v. u. Z., Archäologisches Museum Sofia
31 Goldschatz aus Panagjurischte. Ende des 4. bis Anfang des 3. Jh. v. u. Z.
Den schon zu Beginn des 1. Jahrtausends v. u. Z. einsetzenden Seefahrten der alten Griechen um die thrakischen Gebiete, an der nördlichen Ägäisküste und der westlichen Küste des Schwarzen Meeres entlang, folgten nicht sehr viel später Niederlassungen und Ansiedlungen griechischer Kolonisten. Die ursprünglich kleinen Siedlungen wuchsen zwischen dem 8. und 6. Jahrhundert v. u. Z. zu bedeutenden Stadtkolonien griechischer Metropolen wie Chalkis, Milet, Megara und Athen, die nach dem Vorbild der altgriechischen Poleis erbaut und verwaltet wurden. In einer weniger von geographischen Gegebenheiten und von der Entfernung, sondern vielmehr von wirtschaftlichen und sozialpolitischen Bedingungen abhängigen Abfolge entstanden an der Ägäisküste die Stadtkolonien Amphipolis, Abdera, Maroneia und Ainos; am Marmarameer wurden Perinthos, Selimbria und Byzantion gegründet und an der westlichen Schwarzmeerküste bis zum Donaudelta Apollonia Pontika, Anchialos, Mesembria, Odessos, Dionysopolis, Kallatis, Tomis und Histros.
Die meisten dieser Städte waren keine Neugründungen und lösten ältere thrakische Siedlungen ab - bei Odessos, Mesembria und Apollonia handelte es sich dabei um bedeutende Städte mit einer über mehrere Jahrtausende zurückreichenden Geschichte. Die thrakische Urbevölkerung wurde in das Binnenland verdrängt. Oft erfolgte die Neubesiedlung keinesfalls friedlich; bekannt ist der vom thrakischen Stamm der Edonen geleistete Widerstand während des ersten Versuchs Athens, das Land der späteren Kolonie Amphipolis zu erobern, der laut historischer Quellen mehr als 10000 Opfer unter den griechischen Söldnern forderte. Über den Ruinen einer ruhmreichen Vergangenheit entstanden neue Städte, die sich in ihrer Planung und Bauweise kaum von den Heimatstädten der altgriechischen Siedler unterschieden. Als erste Kolonie entstand an der westlichen Schwarzmeerküste im 7. Jahrhundert v. u. Z. Apollonia Pontika, eine Niederlassung der reichen kleinasiatischen Hafenstadt Milet. Die altgriechischen historischen Quellen verbinden Gründung und Ausbau der Stadt mit dem Namen des bekannten Staatsmannes und Philosophen Anaximander von Milet (um 611 bis 546 v. u. Z.), der zu diesem Zweck von der Stadtverwaltung Milets hierher gesandt worden war. Ursprünglich allein auf der kleinen Insel Sweti Kirik in der Nähe von Burgas entstanden, breitete sich die griechische Kolonie sehr bald auf die ganze mit zwei Häfen ausgestattete Halbinsel aus, an der Stelle der thrakischen Stadt Antheia, wo die jetzige Stadt Sosopol liegt, und darüber hinaus auf dem schmalen Streifen entlang der Küste
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weit nach Süden bis hin zu den Bergabhängen des Strandsha sowie nach Norden zu den Salinenfeldern, wo die Neuankömmlinge eine Tochterkolonie - Anchialos-gründeten. Die für den Obst- und Weinbau sehr günstigen Klimabedingungen, die vorteilhafte Lage zu den an Bunt- und Edelmetallen überaus reichen Erzvorkommen im Strandshagebirge und bei Burgas, die Verbindungen zum thrakischen Hinterland - dem wichtigsten Wein- und Weizenlieferanten Griechenlands -, aber nicht zuletzt auch die Salzgewinnung sicherten Apollonia einen raschen wirtschaftlichen Aufschwung, bis sich die Ansiedlung bereits im 5. Jahrhundert v. u. Z. zur bedeutendsten Hafenstadt der europäischen Küste des Schwarzen Meeres entwickelte.
Im Laufe des 6. und 5. Jahrhunderts v. u. Z. wurden in Apollonia laut historischer Quellen mehrere prächtige öffentliche Bauten errichtet, wie das Buleuterion (Rathaus), das Odeion (Musiktheater), das Gymnasion (Schule) und mehrere Tempel, unter denen der Apollontempel eine besondere Rolle im öffentlichen Leben der Stadt spielte und durch seine einmalige Ausstattung in die Kunstgeschichte eingegangen ist. Um das Jahr 460 v. u. Z. schuf der berühmte Bildhauer Kalamis für diesen Tempel eine mehr als 13 Meter hohe vergoldete Bronzestatue des Apollon, die eine Zeitlang als eins der Weltwunder betrachtet wurde.
27 Grabstele des Deires, des Sohnes von Anaxander. Marmor, Apollonia Pontica, 510 - 500 v. u. Z., Archäologisches Museum Sofia
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Ihr Preis - 500 Talente (das sind 15 000 Kilogramm) Silber - und ihre Größe wurden später erst vom Bau des Pharos in Alexandria übertroffen. Die Römer verschleppten die Statue im Jahre 72 v. u. Z. nach Rom, wo sie auf dem Kapitol aufgestellt wurde und später von dort verschwand, um eingeschmolzen zu werden.
Die von Milet begonnene Kolonisierung der westlichen Schwarzmeerküste breitete sich schon im 7. Jahrhundert v. u. Z. weiter aus. Am Donaudelta entstand die Stadt- kolonie Histros und etwas später an der Stelle, wo heute die bulgarische Stadt Warna liegt, Odessos, von Dionysopolis (heute Baltschik) und Tomis (Tomoi, heute Constanta in Rumänien) gefolgt. Der Expansion Milets schloß sich im 6. Jahrhundert v. u. Z. auch die dorische Stadt Megara mit ihren Gründüngen Herakleia Pontika,
28 Artemis. Figur aus Terrakotta, 4. Jh. v. u. Z., Archäologisches Museum Sofia
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Byzantion und Chalkcdon an, die die Entstehung der Kolonien Mesembria (heute Nessebar) und Kallatis (heute Mangalia in Rumänien) hervorriefen.
Anfangs lediglich Handelszentrum mit vorwiegend Agrar- und Fischereiwirtschaft, entwickelten sich alle diese Stadtkolonien rasch auch zu bedeutenden Handwerkszentren und zu Mittelpunkten eines ausgedehnten kulturellen Lebens. Im Kunsthandwerk und in der Kunst traten an erste Stelle die Tafelkeramik und die Reliefplastik - die Bildhauerwerkstätten Mesembrias und Apollonias waren weit über die Grenzen der Kolonien hinaus bekannt und bewahrten ihre Kunsttradition bis in die ersten Jahrhunderte u. Z. Ihre Produktion hat jedoch an Qualität sichtbar eingebüßt, so daß die späteren Werke keinesfalls den zum Teil aus den ionischen Metropolen stammenden Vorbildern - wie beispielsweise der im Nationalmuseum Sofia aufbewahrten Grabstele Deires’, des Sohns Anaxanders aus Apollonia - nacheifern konnten.
Die wirtschaftlichen Beziehungen der griechischen Kolonien an der Schwarzmeerküste reichten tief in das Binnenland hinein. Die in Apollonia, Odessos und Mesembria geprägten und als Zahlungsmittel benutzten Münzen finden sich in den entlegensten westthrakischen Gebieten, ebenso viele Erzeugnisse dieser Metropolen - vorwiegend Gefäße für Olivenöl, aber auch sehr viel kunstvolle Tafelkeramik. Die Handelsbeziehungen bewirkten einen Kultur- und Kunstaustausch, und die kunstgewerbliche Produktion der Thraker wurde seit dem späten 5. Jahrhundert v. u. Z. immer stärker von der klassischen griechischen Kunst beeinflußt.
Die kulturelle Einwirkung war gegenseitig. In die griechischen Kolonien und ihre Metropolen gelangten zahlreiche Erzeugnisse der thrakischen Toreutik mit ihren Bildwerken, die sich auf die griechische Kunst auswirkten. Der Einfluß war nicht zuletzt auch bei den religiösen Vorstellungen spürbar. Die neuerrichteten Tempel in den griechischen Kolonien an der Schwarzmeerküste - in erster Linie der Apollontempel in Apollonia und der Haupttempel in Odessos - entstanden an der Stelle viel älterer thrakischer Heiligtümer der Sonne bzw. der chthonischen Gottheit und übernahmen den von Orpheus und Zalmoxis eingeführten Dionysoskult, der hier weiter gepflegt wurde. Wir besitzen mehrere schriftliche Zeugnisse, wonach sich an diesen Kultzeremonien während der griechischen Zeit in den Tempeln von Apollonia und Odessos auch Thraker beteiligt haben sollen. Ebenfalls aus historischen Quellen erfahren wir, daß in Athen in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. u. Z. ein Tempel der thrakischen Göttin Bendis nach ihrer offiziellen Anerkennung durch die griechische Polis errichtet wurde.
Über das religiöse Leben und die Kunst hinaus haben die griechischen Kolonien an der Schwarzmeerküste eine immer wichtigere Rolle als Assimilierungszentren der klassischen griechischen Kultur zu spielen angefangen.
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29 Hals eines Tongefäßes mit Darstellung eines Männerkopfes. 5. Jh. v. u. Z., Nationalmuseum Sofia
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Sie wirkten immer stärker als Anziehungspunkte für die thrakische Aristokratie und boten während der makedonischen und keltischen Fremdherrschaft in Thrakien im 4. und 3. Jahrhundert v. u. Z. vielen thrakischen Fürsten mit ihren Familien Asyl, die dort assimiliert wurden, zugleich wurde aber der thrakische Anteil der Bevölkerung in diesen Kolonien verstärkt und dadurch allen Bereichen der Kultur ihre eigene Prägung verliehen. Sehr deutlich ist dies während der hellenistischen und besonders in der römischen Zeit spürbar. Die Kunst und das Kunsthandwerk der griechischen Kolonien an der westlichen Schwarzmeerküste wurden immer mehr von der Bildwelt der thrakischen Kunst beeinflußt, in der Religion bildeten sich neuere Kultformen heraus, deren Ursprung in der thrakischen Religion zu finden ist.
Der umgekehrte Prozeß - die zunehmende Wirkung des Hellenistisch-Griechischen auf die thrakische Kunst und Religion - kann ebenfalls bei den thrakischen Kunstwerken aus dem späten 4. und dem 3. Jahrhundert v. u. Z. festgestellt werden. In der Architektur zeigen sich diese Einflüsse vor allem beim Städtebau - am deutlichsten bei der einzigen bislang vollständig ausgegrabenen thrakischen Stadt, Seuthopolis, einer Gründung des Odrysenkönigs Seuthes III., eines Zeitgenossen Alexanders des Großen. Wenn auch die Zitadelle mit der königlichen Residenz hier nach wie vor in der thrakischen Bautradition errichtet worden ist -
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mit Festungsturm und sich anschließenden kultischen Bauten so sehen die Straßen und die Wohnviertel ganz anders aus, als wir es von den älteren thrakischen Siedlungen gewöhnt sind, deren unregelmäßige Bebauung uns durch mehrere Ausgrabungen bekannt ist. In Seuthopolis tritt das erste Beispiel im thrakischen Binnenland für Städtebau nach dem Hippodamischen System auf: die Straßen verlaufen parallel und schneiden sich rechtwinklig mit genauer Orientierung auf die Himmelsrichtungen. Doch wurde gerade das neue Städtebausystem des Architekten Hippodamos von Milet nicht durch die griechischen Stadtkolonien an der Schwarzmeerküste vermittelt, da die Bauweise dieser Städte veraltet war und sich weitgehend nach den Gegebenheiten der hügeligen Landschaft richtete. In der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. u. Z. folgten die thrakischen Baumeister bereits anderen Vorbildern - den fortgeschrittenen zeitgenössischen »modernen« Städten wie Piräus - und überholten somit schon die ihnen geographisch nahegelegenen griechischen Kolonien, die dem Aufschwung der thrakischen Kultur kaum mehr nacheifern konnten.
Auch unter dem Begräbnisinventar der thrakischen Hügelgräber finden sich seit dem 5. Jahrhundert v. u. Z. prächtige Erzeugnisse altgriechischer hauptstädtischer Kunstwerkstätten - wie beispielsweise die aus den besten Werkstätten Athens stammende bemalte Tafelkeramik in den Hügelgräbern bei Duwanli. Diesen Werkstätten wie auch den neuen Kunstrichtungen der hellenistischen Metropolen paßten sich schon seit dem Beginn des 4. Jahrhunderts v. u. Z. die meisten thrakischen Künstler und Kunsthandwerker weitgehend an. Das Paradebeispiel dafür bieten die beiden bedeutendsten in Bulgarien aufgefundenen Kunstwerke aus dieser Zeit - die Fresken des thrakischen Grabmals in Kasanlyk und der Goldschatz von Panagjurischte im Plowdiwer Archäologischen Museum.
Die Fresken von Kasanlyk - die wohl einzige bedeutende hellenistische Malerei im gesamten weiten Areal des Weltreichs Alexanders des Großen, die uns überkommen ist - haben stilistisch und semantisch kaum etwas Gemeinsames mit der früheren thrakischen Kunst. Die ausschließlich sakrale Thematik der älteren thrakischen Bildwerke ist aufgegeben worden, und als Sujet dient nunmehr eine Genreszene, die ihren Ursprung nicht mehr in der thrakischen Weltbetrachtung hat. Auch der malerische Stil mit den feinnuancierten, durchsichtigen Farben entstammt nicht der lokalen Kunstüberlieferung. Es ist eine weitreichende Angleichung in Form und Technik eingetreten, die jetzt die ganze griechisch orientierte Kulturwelt erfaßt. Dieses Bildwerk könnte ebensogut in jedem anderen der hellenistischen Kunstzentren in Eurasien oder in Ägypten entstanden sein. Es reflektiert die in der damaligen kulturellen Welt herrschende Kunstauffassung und entspricht dem überaus hohen Niveau der hellenistischen hauptstädtischen Kunst.
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31 Goldschatz aus Panagjurischte. Ende des 4. bis Anfang des 3. Jh. v. u. Z.
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Nicht weniger stark ist die Zugehörigkeit der Kunstwerke aus der hellenistischen Zeit in Thrakien zu den zeitgenössischen Auffassungen von Form und Stil bei dem sogenannten Schatz von Panagjurischte ausgedrückt - dem wohl bedeutendsten Werk hellenistischer Toreutik, das uns erhalten geblieben ist. Der Ursprung dieser einmaligen Tafelgarnitur aus neun mit Reliefs geschmückten goldenen Gefäßen ist umstritten und wird sicherlich immer umstritten bleiben. So wichtig aber auch für uns dieser Ursprung erscheinen mag, hat er in der Kunstgeschichte kaum mehr Bedeutung, denn im Weltreich Alexanders des Großen - von Persepolis und Alexandria über Pergamon und Milet bis hin zum skythischen Chersones - herrschte ein gleicher Stil. Daß die thrakischen Werkstätten sich sehr genau an diesen Stil angepaßt haben, bezeugen mehrere andere Gefäße, die zwar nicht aus so wertvollem Material, aber nicht minder künstlerisch gefertigt sind, wie das Rhyton von Rosowez und die Phialen von Warbiza und Bukjowzi im Nationalmuseum Sofia.
Diesen neuen Stil weisen auch die bis dahin als thrakische Spezies geltenden Beschläge auf, deren Bildwerke weitgehend griechisches Formempfinden aufgenommen haben, wie die Zierbeschläge aus dem Arabadshiski-Hügelgrab bei Duwanli im Archäologischen Museum Plowdiw. Die Tafelgarnitur aus Panagjurischte ist aber in ihrer Ausführung und in ihrem Prunk einmalig - so einmalig wie die als Sieben Weltwunder gepriesenen Bauwerke des Altertums. Auch in jener märchenhaft reichen Welt - die zugleich mit für uns unvorstellbarem Elend erfüllt war - erscheint sic einzigartig. Vielleicht hat die von einigen Forschern verteidigte Hypothese recht, wonach diese kostbarste Tafelgarnitur aus dem Besitz Alexanders des Großen durch Lysimachos, einen seiner Nachfolger, nach Thrakien gelangt sein soll und während der darauffolgenden Unruhen in die thrakische Erde vergraben wurde, wo sie bis vor einem Vierteljahrhundert lag. So erscheint sie uns als Ausgleich für die nach den neuen Kunstzentren verschleppten Goldschmiedemeister, die nie wieder in ihre Heimat zurückkehren durften.